Vier Landessprachen, mehr als zwei Dutzend Dialekte und unzählige Fachjargons – kein Wunder, verstehen wir oft nur Bahnhof. Doch das ist gut so.
Früh erkannten sie die Gefahr und warfen sich ihr unerschrocken entgegen: «Der Zerfall der Sprache ist ein ernstzunehmendes Anzeichen eines raschen kulturellen Niedergangs» − mit diesen Worten gelangten die Schweizer Demokraten (SD) Patrick Blöchlinger und Ueli Brasser 2006 per Postulat an den Zürcher Gemeinderat. «Die Verwendung von Fremdsprachen, insbesondere des Englischen, bei der Werbung auf öffentlichem Grund» gehöre «verboten oder zumindest eingeschränkt», forderten sie. Denn «unter dem Einfluss derartiger Werbung werden sowohl die deutsche Schriftsprache als auch die hiesige Mundart nach und nach ihren angestammten Klang verlieren». Es sei zudem höchste Zeit, dem Beispiel Frankreichs zu folgen – dort ist die Verwendung fremdsprachiger Begriffe in Amtssprache, Medien und Werbung strafbar.
Werbetexter verhaften?
Zweifellos kann man es belächeln, wenn Werber mit englischen Slogans munter am Zielpublikum vorbeitexten oder dass die SBB-Verantwortlichen ihre Auskunftsstelle als «Rail-Service» bezeichnen. Aber sie gleich verhaften? Der Zürcher Gemeinderat fand das auch ein bisschen too much − Entschuldigung: übertrieben − und lehnte mit 108 zu 2 Stimmen ab.
Mit ihrer Sorge um das Kulturgut Sprache befinden sich die beiden Lokalpolitiker jedoch durchaus in illustrer Gesellschaft: So hat die Unesco 2008 zum «Internationalen Jahr der Sprachen» erkoren. Ein Ausrufezeichen für die Schweiz mit ihren vier Landessprachen: «Sprachen müssen geschützt werden», sagt die Unesco. Müssen sie? Sicherlich wäre es zu bedauern, wenn zum Beispiel das Rätoromanische daran scheitert, dass es kein Mensch mehr spricht − doch «wenn die Bevölkerung absolut sicher ist, auch weiterhin Rätoromanisch sprechen zu wollen, wird sie sich entsprechend anstrengen», sagt Andrea L. Rassel von der Lia Rumantscha, der Organisation zur Erhaltung und Förderung des Rätoromanischen. Es wäre wohl wenig sinnvoll, die Leute gesetzlich dazu zwingen zu wollen. Warum sollte es also sinnvoller sein, fremde Einflüsse auf eine Sprache zu verbieten?
Und welche «Sprache» genau sollte auf diese Weise in Ketten gelegt werden: das Hoch-, Basel- oder Zürichdeutsch? Die Wirtschaftssprache, der Jugendslang oder das Juristendeutsch? «‹Sprache› meint ein bestimmtes System von konventionellen Regeln, die gegenwärtig gelten. Da gesellschaftliche Konventionen ständigem Wandel unterliegen und zudem sozial, regional, alters- und möglicherweise geschlechtsspezifisch variieren, ist der Begriff ‹Sprache› notwendigerweise äusserst unscharf», macht der deutsche Germanistikprofessor Rudi Keller deutlich. In der Schweiz herrscht mit vier offiziellen Landessprachen inklusive über 30 Varianten des Schweizerdeutschen sowie diversen Soziolekten und Fachsprachen ein geradezu babylonisches Sprachengewirr (siehe nachfolgende Verständnistests).
Die Einschätzung, dass sprachliche Veränderungen immer schlecht sind, ist zudem zwar ein sehr aktuelles, aber kein neues Phänomen − schon der römische Dichter Vergil (70−19 v. Chr.) soll «das unnötige Einflicken ausländischer Wörter» und «die unsäglichen Wortzusammenfügungen ohne Sinn und Verstand» im Sprachgebrauch seiner Zeitgenossen als beschämend gegeisselt haben. Ebenso war der deutsche Philosoph und Lehrer Arthur Schopenhauer (1788−1860) ein wenig verärgert, dass «eine junge Generation heranwächst, welche schon kein anderes Deutsch mehr kennt als diesen verrenkten Jargon des impotenten Zeitalters, welches sich ein Gewerbe daraus macht, die deutsche Sprache zu demolieren».
Die Sprachwissenschaft bleibt derweil sehr gelassen: «Seit mehr als 2000 Jahren ist die Klage über den Verfall der jeweiligen Sprachen literarisch dokumentiert, aber es hat bislang noch nie jemand ein Beispiel einer ‹verfallenen Sprache› benennen können», sagt etwa der Linguist Keller. Es dürfte selbsternannte Kulturschützer wie die beiden SD-Gemeinderäte auch nachdenklich stimmen, dass die ungenierte Umlagerung fremden Wortmaterials in die eigene Sprache gar eine urchige Besonderheit der Deutschschweizer ist. In Deutschland gab es seit der Barockzeit immer wieder Anstrengungen, Entlehnungen aus dem Lateinischen, Französischen und später dem Englischen gezielt einzudeutschen – so wurde aus dem Autor der Verfasser, aus dem Rendezvous das Stelldichein und aus dem Tram die Strassenbahn. Hierzulande machte man es sich einfacher: Begriffe wie Couvert, retour oder auch Goalie und tschutte (englisch: to shoot) wurden kurzerhand zu typisch schweizerischen Spracheigentümlichkeiten erklärt, und alles war wieder gut.
«In der Schweiz herrscht ein anderes Sprachbewusstsein vor als in Deutschland oder Österreich, eines, das stark von der Möglichkeit des Auch-anders-sprechen-Könnens geprägt ist», erklärt Christa Dürscheid, Germanistikprofessorin an der Universität Zürich. So findet es eine Aargauerin höchstens belustigend, wenn sie den Walliser nicht auf Anhieb versteht, und dass sich die Genferin und der Thurgauer auf Englisch besser verständigen können als in einer der Landessprachen, mag zwar manch einem Lehrer Tränen in die Augen treiben, kommt aber trotzdem häufig vor − man versteht in diesem Land öfter mal Bahnhof, na und?
Goethe hätte Freude an der Schweiz
Über diese Laisser-faire-Haltung hätte sich ausgerechnet das Idol von Liebhabern der deutschen Sprache, Johann Wolfgang von Goethe (1749−1832), ganz besonders gefreut. Während der Dichter Fremdsprachen gegenüber sehr aufgeschlossen war, fand er Sprachpuristen eher lästig: «Sinnreich bist du, die Sprache von fremden Wörtern zu säubern. Nun so sage doch, Freund, wie man Pedant uns verdeutscht.» Und Professor Rudi Keller stellt gar die ketzerische Frage, was denn schon passieren würde, wenn tatsächlich einmal ein erheblicher Prozentsatz des deutschen Wortschatzes englischen Ursprungs wäre: «Ein Musterbeispiel für eine ‹überfremdete› Sprache ist das Englische: Etwa 30 bis 40 Prozent des Wortschatzes sind französischen Ursprungs. Wie man sieht, hat dies der Attraktivität dieser Sprache und ihrer Tauglichkeit keinen Abbruch getan.» Die meisten von uns benutzen Fremdwörter, ohne es überhaupt zu merken: Wer würde die französische Batterie, das lateinische Fenster oder den englischen Sport heute noch verdächtig finden?
Statt die allgemeine Kulturverluderung zu beweinen, könnte man das «Jahr der Sprachen» auch zum Anlass nehmen, sich der sprachlichen Vielfalt in all ihren Facetten zu erfreuen − oder um es mit dem deutschen Lyriker Christian Friedrich Hebbel (1813−1863) zu sagen: «Wäre die Sprache ein Produkt des logischen Geistes anstatt des poetischen, so würden wir nur eine haben.»
Autor: Iwon Blum, 09. Januar 2008, Beobachter 1/2008